Sonntag, 9. November 2025, 12:18 – Lyrik
Und wie war das noch mit dem gestrauchelten Nachbarn, damals? Wie sagte er immer am Morgen im Büdchen bei den Nachtarbeitern, wenn er sich zwei Bier und einen Schnaps holte? „Es kann eben nicht alles am Thirsty Thursday getrunken werden“. Später sollte er langsam verschwinden, wie durchsichtig.
Stück für Stück, wie ein Blatt Papier, das man zu lange in der Sonne liegen lässt. Zuerst waren es die Details, die verblassten. Man hörte sein charakteristisches, leicht schlürfendes Geräusch nicht mehr, wenn er morgens über das Kopfsteinpflaster zum Büdchen stapfte. Dann bemerkten die Nachtarbeiter, dass sie seinen Schatten nicht mehr sahen, der ihm früher immer drei Schritte vorausgelaufen war. Die Nachtarbeiter hatten allen Grund nach der Schicht in der Früh Bier zu trinken, aber der Nachbar nicht. Er nicht. Er wusste das. Ewig schon.
Eines Tages war nur noch sein Platz an der Theke da, eine leere Delle im Kunstleder des Hockers, und der Geruch von kaltem Zigarettenrauch und altem Hopfen, der ihm immer anhaftete, wie eine zweite, unsichtbare Jacke. Die Frau hinter der Theke schenkte zwei Bier und einen Korn ein und stellte sie, aus reiner Gewohnheit, auf die abgewetzte Stelle vor dem leeren Hocker. Die Gläser standen da, bis der Schaum sich setzte und sich eine dünne Haut auf dem Schnaps bildete.
Später, viel später, hörte man manchmal nachts ein leises Klirren, als ob jemand mit einem leeren Glas anstieß, und eine Stimme, die aus dem Nichts zu kommen schien, flüsterte: „Es kann eben nicht alles am Thirsty Thursday getrunken werden.“ Dann schauten sich die Verbliebenen an, nickten wortlos und tranken einen stillen Schluck auf den, der gegangen war, ohne je richtig gegangen zu sein. Ohne je richtig dagewesene zu sein. Er war keiner von ihnen. Er gehörte nirgendwo dazu. Er war jetzt nur noch ein Klang, ein Geruch, eine Gewohnheit – ein Geist, der an seinen Gewohnheiten hing, wie eine Motte am Licht. Er war sie alle, all jene waren er.
#prosa